Tiere


Nach der weitverbreiteten und missverständlichen Kurzfassung von Charles Darwins Evolutionstheorie, ist die natürliche Selektion ein Überlebenskampf, in dem der Stärkere gewinnt. „Jeder gegen jeden“- erbarmungslos wird gejagt und brutal getötet. Reportagen mit solchen Inhalten zeigt man gerne, sie lassen sich gut verkaufen. Es befriedigt die Sensationsgier vieler Menschen. Doch es gibt noch andere Sensationen: Tiere handeln nicht nur im Rahmen des Selektionsprinzips, sondern auch nach kooperativen Verhaltensmustern. Und sie haben viel mit uns Menschen gemein, ob wir wollen oder nicht. Jeder, der einen tierischen Mitbewohner hat und diesen Wert schätzt, kann davon berichten.

Variety of farm animals in front of white background

Tiere haben wie wir einen Beschützerinstinkt gegenüber Jungen, verwandt (viele Tierarten erkennen verwandte Individuen aufgrund ihres Geruchs) oder nicht. Das nicht verwandte Jungtier muss kein Mitglied der eigenen Gruppe sein, um beschützt zu werden. Tiere schützen die Jungen vor natürlichen Raubtieren, aber auch vor der Bedrohung des Menschen. Der Forschungsreisende Peter Freuchen berichtete von einer Familie von Wölfen im Norden der Hudson Bay. Die Familie bestand aus zwei Erwachsenen und vier Jungen. Eines der Jungen war in eine Falle in einem Steinhügel getreten. Die anderen Wölfe hatten Steine weggeräumt. Die gefrorene Erde um den Stein mit der befestigten Falle hatten sie weggekratzt, um das Junge zu befreien.
Viele Tiere verteidigen sowohl ihre Jungen als auch ihre erwachsenen Artgenossen gegen Feinde.(1)

Tiere sind zur Nächstenliebe fähig. Dies kann der Mensch erkennen, wenn er eines beobachtet oder sich mit ihm beschäftigt. Es gibt Beobachtungen, in denen Tiere ihr Leben auch für nicht-verwandte Artgenossen oder andere Arten riskieren. So ließ sich ein alter Elefant nicht davon abbringen, einem in Schlamm festsitzenden Rhinozerosjungen zu helfen. Obwohl die Verwandten des Jungtiers, um Letzteres zu schützen, ihn heftig angriffen. Löwenforscher beobachteten, wie alte Löwinnen, die keine Kinder mehr austragen konnten und kein gutes Gebiss mehr hatten, mehrere Jahre länger lebten. Die jüngeren Löwen teilten ihre Beute mit ihnen.(2)

Tiere kooperieren miteinander: Sie bilden Allianzen, sorgen und säugen gemeinsam für die Jungen oder genießen die gegenseitige Körperpflege. Sie arbeiten oft auf ein gemeinsames Ziel hin und zeigen dabei das gleiche Verhalten, das sie einzeln zeigen würden. So wurde beobachtet, dass Raben Wölfe zu einem toten Elch führten. Die Wölfe zerrissen den Kadaver, fraßen davon und die Raben bekamen ihren Teil ab.(3)

Tiere können sich bewusst sein, dass sie unter Beobachtung stehen. Löwen, die im hohen Gras der Serengeti Beute machten, haben oft mit der Gewohnheit ihrer Spezies gebrochen und nicht sofort angefangen zu fressen. Sie saßen bis zu fünf Minuten da, haben in die Gegend geschaut und getan, als ob sie nichts gefangen hätten. Erst als alle Löwen in der näheren Umgebung weggegangen waren, begannen sie zu fressen. Kennen wir das nicht von Tieren, die mit uns zusammenleben? Sie verhalten sich, als ob sie wüssten, dass andere sie wahrnehmen. Sie verfügen über ein Selbstbewusstsein.(4)

Und Tiere sind empathisch. Leidet eines, übertragen sich seine Qualen auf die anderen. Todesschreie ihrer Artgenossen, deren Todesangst und der Geruch, der sich an den Tatorten ausbreitet, nehmen sie war und setzen sie unter Stress. Die seelische Not der Artgenossen wirkt ansteckend und steigert die Furcht jedes einzelnen Individuums. Die Folge sind Panik- und Fluchtreaktionen. Sie nehmen auch den leblosen Körper des anderen wahr. Der Schmerz, der durch den Tod eines Mitgliedes einer sozialen Gruppe ausgelöst wird, kennen wir alle, Tier und Mensch. (5)

Tiere besitzen wie wir ein limbisches System. Schmerz oder seelisches Leid sind Emotionen, die das limbische System steuert. Der französische Ethologe und Psychiater Boris Cyrulnik stellte fest, dass Menschen mit Tieren grundlegende Emotionen teilen. Dazu gehören Hunger, Wut, Niedergeschlagenheit, Schmerz, Freude und Beschützerinstinkt gegenüber den Jungen.
Tiere sind zwar nicht identisch mit uns, aber sie sind Lebewesen, die genauso fühlen wie wir. Und sie sind, wie wir, untereinander verschieden. (6)

Sie haben unseren Respekt verdient!

Selbst verschiedene Legenden in unterschiedlichen Ländern erzählen von der Loyalität und der Klarsicht der Tiere: Legenden aus der Antike berichten von Delfinen, die einen Schiffbrüchigen über Wasser halten und an Land bringen oder Schiffe zwischen Felsenklippen durchlotsen. Der Mythos von Daskin Ray in Sundarban erzählt, wie der Tigergott den Wald beschützt und dessen Reichtümer nur aus Großzügigkeit mit den Menschen teilt. Die Furcht vor dem Tiger hält die Holzfäller davon ab, zu viele Bäume zu fällen. Das Alte Testament erzählt von einer Taube, die Noah als Kundschafter diente. Sie steht seither symbolisch für die Versöhnung zwischen Gott und den Menschen.
Der Mensch wird mit Arroganz und Schuld in Verbindung gebracht.
Legenden, die seit Jahrhunderten existieren, scheinen eine höhere Meinung von den Tieren als von den Menschen zu haben.

Es sollte uns nachdenklich stimmen!

 

 

 

 

 

Quellen:

(1) (2) (3) (4)  Jeffrey M. Masson, Susan McCarthy, Wenn Tiere weinen, Rowohlt, Reinbek, 1996
(5)  (6)   Karine Lou Matignon, Was Tiere fühlen, Frederking & Thaler, München 2006
Cynthia Moss, Die Elefanten vom Kilimandscharo. 13 Jahre im Leben einer Elefantenfamilie. Rasch und Röhring, Hamburg 1990
Bekoff Marc, Pierce Jessica, Vom Mitgefühl der Tiere. Verliebte Eisbären, gerechte Wölfe und trauernde Elefanten, Franckh-Kosmos, Stuttgart 2011.

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