Das Huhn – eine lebenslustige Persönlichkeit
Im 19. Jahrhundert nahm das Übel seinen Lauf: Die Intensivhaltung setzte ein – und somit der Albtraum aller „Nutztiere“. Menschen quetschen Hühner heute sogar mit bis zu 100 000 anderen in einen Raum zusammen. Was muss das für eine Qual sein für ein Huhn, das von Natur aus ein Mitglied einer lebenslustigen Gemeinschaft ist?
Jede Hühnerpersönlichkeit spielt eine bestimmte Rolle in ihrer Gemeinschaft und leistet ihren Beitrag zu einem friedvollen Zusammenleben. Hühner können bis zu 80 Herdenmitglieder auseinanderhalten und wiedererkennen. Sie sind neugierig und immer für eine Entdeckungstour zu haben. Dabei legen sie pro Tag ein bis zwei Kilometer zurück – kurze todesmutige Flugversuche mit inbegriffen. Schließlich ist huhn immer noch ein Vogel!
Laut der australischen Tierverhaltensforscherin Dr. K-lynn Smith von der Macquarie University in Sydney sind Hühner leider „die am meisten unterschätzten Tiere auf dem Planeten„. (1) Dabei können sie komplexe Aufgaben lösen, sowie Entscheidungen in aktuellen Situationen treffen, indem sie sich auf frühere Erfahrungen berufen. Und sie besitzen Humor, wie das Huhn „Chicken“, das entschied im Garten des Restaurantkritikers der New York Times, Wiliam Grimes, zu leben:
„War es reiner Zufall, dass es sich gern an Yowzer heranschlich, die Katze, die fast immer nervöse Zuckungen bekam, wenn sie überrascht wurde? Immer wieder sah ich Chicken vorsichtig in Yowzers Richtung tappen, sobald sie ihm den Rücken zuwandte; dann gackerte es ein paar Mal und beobachtete, wie die Katze hoch in die Luft sprang. Nach diesem geglückten Überfall rannte Chicken beschwingt davon, mit einem Gackern, das verdächtig nach einem Kichern klang.“ (2)
Abgesehen von solchen kleinen Schandtaten sind Hühner fast die Hälfte des Tages am Scharren und Picken. Das Fressen kommt schließlich nicht von selbst in ihren Schnabel. Obwohl Hühner ganz genau wissen, was für Nährstoffe sie brauchen und diese gezielt auswählen, hat jedes einzelne Huhn auch seine eigenen Vorlieben. Und die möchten gepflegt werden. Auch bei Hühnern ist das Auge mit. Ebenfalls entscheidend ist, wie sich das Essen anfühlt. So kann es gut sein, dass ein Huhn sich weigert, Schnecken zu essen, aber vor Entzückung durchdreht, wenn es ein Salatblatt gezeigt bekommt. Manchmal kommt es auch ganz anders:
„Oder Kid, die auf Zuruf herbeigeflitzt kam, gelegentlich auf meiner Schulter thronte wie ein Piratenpapagei und sich das Recht herausnahm, vom Gartentisch Erdbeeren und Kekse zu stibitzen.“ (3)
Hühner können auch sehr zutraulich sein. Eine Dame lässt sich gerne streicheln, die andere isst aus der Hand. Sie merken sich sogar problemlos wann und wo sie ihr Essen erhalten, inklusive leckerer Snacks. Sie sorgen dafür, dass sie nicht vergessen werden, indem sie einen daran erinnern. So können plötzlich zwei fordernde Hühner im Hof vor der Küchentür stehen, aus der sie ihre Leckerbissen erhalten haben und mit den Schnäbeln empört an die Tür pochen.
Wasser auf ihrem feinen Gefieder finden Hühner nicht witzig. Da ähneln sie den meisten Katzen. Sie bevorzugen es, sich selbstständig zu reinigen, indem sie sich eine Mulde im Boden oder im Sand scharren. Jeden einzelnen Körperteil bearbeiten sie sorgfältigst mit ihren Krallen. Ihr Gefieder kämmen sie sich mit ihrem Schnabel so lange, bis alles wieder sitzt. Danach wird sich geschüttelt, damit selbst das letzte Staubkörnchen, überflüssiges Gefiederfett und Ungeziefer beseitigt sind. Sie sind so reinlich, dass selbst Menschen ihnen das in Gefangenhaltung nicht austreiben können. Karen Davis, eine der führenden Hühnerexpertinnen, berichtete, dass selbst Hühner, die ihr ganzes Leben lang in Drahtkäfige eingesperrt sind, „Vakuum“-Staubbäder nehmen. (4) Leider nur eine traurige, leere Geste.
Die Hühnerhofhierarchie
Das Leben der Hühner bestimmt eine strenge Hierarchie. An der Spitze steht der verantwortungsbewusste Hahn, dann folgen die Hühner. Ist kein Hahn vorhanden, tritt das Matriarchat in Kraft: eine ältere, kräftigere Henne übernimmt das Kommando. Und die lässt sich ganz bestimmt nicht von irgendeinem dahergelaufenen Hahn ihren Rang wieder wegnehmen. Dieser muss erst was zu bieten haben! Solange versucht sie sich erfolgreich im Krähen – was ein Hahn kann, kann sie schließlich auch.
Stellt ein Huhn die Stellung der Matriarchin aufmüpfig in Frage, weist letztere die Rebellin mit einem scharfen Schnabelhieb zurecht. Auch die anderen Plätze in der Rangordnung können angefochten werden. Dann laufen die betreffenden Hühner abwechselnd mit einem Imponiergehabe oder duckend umeinander herum. Sind die Verhältnisse vorerst geklärt, erkennt ein rangniedrigeres Huhn ihre Stellung durch eine geduckte Haltung an, hat aber dadurch auch weniger Zugang zu den Futterressourcen. Obwohl manchmal die Federn fliegen können, herrscht weitestgehend Harmonie. Gemeinsam picken alle nach Körnern, wenn auch ein Anstandsabstand oft verlangt wird, halten gackernd ein Schwätzchen, liegen zusammen in der Sonne und rücken nachts eng zusammen. Selbst Eier werden mit Vergnügen in das gleiche Nest gelegt. Gerne säubern sie sich auch gegenseitig das Gefieder. Berührungen und Laute sind das A und O in der Gemeinschaft. Bis zu dreißig verschiedene Lautäußerungen können Hühner von sich geben, jede hat seine eigene Bedeutung. (5)
Sind die Herden jedoch zu groß, können die Hühner ihre „Mithühner“ nicht mehr alle erkennen und die Rangordnung funktioniert nicht mehr. Stress ist vorprogrammiert, denn mangelnder Platz verhindert eine friedliche Auseinandersetzung. Es sei denn, sie können räumlich stabile Untergruppen bilden, die wiederum von einem Hahn oder einer Matriarchin angeführt werden.
Wann ist ein Hahn ein Hahn?
Auf jeden Fall nicht, wenn er wie ein aufgeplusterter Gockel herumstolziert und seinen Kamm in den Wind hält. Hennen sind wählerisch: Der Hahn sollte nicht nur schön, sondern auch verantwortungsbewusst sein.
Ein Hahn beschützt und umsorgt seine Hennen. Er hält die Hühnerschar zusammen, ohne die Rangordnung zu missachten. Einerseits können jüngere Hennen mit zunehmenden Alter in der Rangordnung aufsteigen, andererseits werden alte Hennen, die keine Eier mehr legen können, auch nicht von ihm verstoßen. Gerade neben diesen gealterten Genossinnen verbringt er sogar oftmals die Nacht.
Hinzu kommt die Rolle des Streitschlichters. Die Autorin Anny Duperey hat beispielsweise beobachtet, wie zwei Hennen sich in die Haare geraten waren. Der Hahn ging dazwischen, gab ein dumpfes Gackern von sich und wandte sich dabei abwechselnd der einen und der anderen zu – bis Ruhe herrschte. (6)
Gleichzeitig ist er ein wahrer Gentleman: Er begleitet die Henne oft zu ihrem Nest, manchmal beteiligt er sich sogar an der Nestsuche. Hört er die Henne erfreut über ihr gelungenes Eierlegen gackern, holt er sie wieder ab und bringt sie zurück zu der Herde. Sein gefundenes Futter präsentiert er seinen Hennen nicht ohne Stolz mit einer geradezu singenden Stimme. Die Art seines Rufens zeigt den Hennen die Qualität der Nahrung an. Kommen sie angerannt, bewegt er seinen Kopf schnell hin und her, hoch und runter. Dabei nimmt er das Essen mit dem Schnabel auf und lässt es wieder fallen: das Zeichen, dass er etwas ganz Deliziöses gefunden hat. (7) Aber er scheint auch absichtlich zu täuschen: nämlich dann, wenn eine Henne sich seiner Meinung nach zu weit von ihm entfernt hat. Um sie zurückzulocken, benutzt er ein Nahrungsruf, obwohl er gar nichts gefunden hat. (8)
Sein Krähen hört man bis zu zwei Kilometern und macht den Standort seiner Hühnergemeinschaft klar, aber auch seinen Revieranspruch. Sind mehrere Hähne in der Umgebung, kann es durchaus zu einem „Wettstreitkrähen“ kommen.
Das Krähen kann je nach Art und Stimmlage auch Botschaften wie Angst, Vergnügen, Frustration oder Warnung enthalten. Gleichzeitig unterscheidet sich das Krähen auch zwischen der Warnung vor einem Bodenfeind oder einem Angreifer aus der Luft. So beschreibt Karen Davis:
„Wenn ein Hahn eine Gefahr wittert, stößt er einen schrillen Schrei aus. Die anderen Hähne ahmen diesen Schrei nach. Daraufhin stimmt das ganze Hühnervolk oft in ein lautes, ununterbrochenes, trommelschlagartiges Gackern ein, wobei alle Mitglieder sich in die entgegengesetzte Richtung schieben, um einen Unterschlupf zu suchen. Sobald die Lage wieder sicher scheint, geht vom ersten Hahn eine „Ist die Luft rein?“ Frage aus, welche die anderen Hähne an ihren jeweiligen neuen Plätzen nacheinander erwidern. Schließlich stößt jener Vogel, der zuerst Alarm schlug, ein „Die Luft ist rein“- Krähen aus, und eine Reihe lokalisierter Krählaute zeigt an, wo sich jeder andere Hahn mit seiner Hühnerschar zu diesem Zeitpunkt befindet.„(9)
Hähne und Hühner können den Feind schon hören, bevor er überhaupt gesichtet ist. So können schon erste Rettungsmaßnahmen eingeleitet werden. Obwohl die meisten Hähne friedfertig sind, können sie sich bei Gefahr den Hennen zu einer Attacke verpflichtet fühlen. Dann plustert sich der Hahn auf und kommt mit Drohgebärden auf den Feind zu. Schmerzhaft wird es, wenn er einen anspringt, hackt und kratzt. Bekämpfen sich Hähne gegenseitig, versuchen sie sich zusätzlich die Sporen gegen den Kopf oder die Brust zu rammen.
„Du wurdest von einer Henne aufgezogen“
Dieser Spruch war bei den alten Römern ein absolutes Kompliment. Denn die Henne ist eine sehr fürsorgliche Mutter.
Ab vier Monaten beginnen die Hennen zu legen und sind in dieser Zeit auch am produktivsten. Dieses Stadium wird auch gerne bei der Intensivhaltung in Legebatterien ausgenutzt. Nach der ersten Mauser legen sie zwar weniger Eier, aber dafür größere. Da sie während dieser von der Natur verordneten Pause keine Eier legen, zögern Menschen bei Hennen in Legebatterien die Mauser künstlich hinaus. Ein rücksichtsloser Eingriff in den ausgelaugten Hühnerkörper.
Die Eier müssen nicht immer befruchtet sein: Hennen scheiden ihre Eizellen als Ei auch dann aus, wenn keine Befruchtung stattgefunden hat. Das Ei ist schlichtweg ein menstruales Produkt, welches die Henne im fortgeschrittenen Alter nicht mehr ausscheidet.
Sind die Eier befruchtet „leben“ sie und können noch nach bis zu vierzehn Tagen ausgebrütet werden. Um diese Fähigkeit zu erhalten, drehen die Hennen die Eier täglich um, damit der Dotter nicht an der Schale festklebt. So können die Küken nach 21 Tagen so gut wie gleichzeitig schlüpfen. Während ihrer Brutzeit wehrt sie sämtliche Annäherungsversuche, sei es von Artgenossen oder anderen Wesen, vehement ab. Einmal täglich verlässt sie kurzzeitig ihr Nest, kotet, trinkt, aber frisst nur wenig und huscht schnell wieder zurück. Zwei Tage vor dem Schlüpfen der Küken beginnt die Verständigung zwischen Mutter und Kindern. Oft geben die Küken kurz vor dem Schlüpfen kummervolle Geräusche von sich. Dann reagiert die Henne, bewegt ihren Körper auf dem Ei oder gibt beruhigende Rufe von sich. Das Küken antwortet freudig. Durch diese enge Verbindung schon vor der Geburt reagieren die Küken danach ausschließlich auf die Rufe ihrer Mutter. Hennen sind auch wunderbare Adoptivmütter, wenn man ihnen fremde Küken zum gleichen Zeitpunkt anvertraut, wie die anderen Küken gerade geschlüpft sind. Sie machen dann keinen Unterschied, alle werden gleichermaßen liebevoll aufgezogen und beschützt. Im Alter von sechzehn Tagen wagen es die Küken sich schon etwas mehr von ihrer Mutter zu entfernen, springen und flattern herum. Sobald aber ein Geräusch verdächtig klingt, ertönt der Warnruf der Mutter und alle rennen los, um sich bei ihr zu verstecken. Die Mutter plustert sich dann auf, schließlich müssen alle Küken Unterschlupf finden. Sie selbst muss dem Angreifer gegenüber imponierend wirken. Manchmal ist ein Küken der Meinung, es sei schon selbstständig genug und bemerkt seine Fehleinschätzung erst bei größerer Entfernung von der Mutter. Dann fiept es sein „Verlassenheitsweinen“ und die Mutter kommt angeschossen, um den kleinlauten Zwerg einzusammeln. Alles in allem gilt: Wer ihren Küken zu nahe kommt, wird gnadenlos attackiert. Diese Erfahrung musste auch ein Schwein namens Rosa-Mariechen machen, von deren Schicksal Hilal Sezgin in ihrem Buch „Tierleben“ erzählt:
„Als das Schwein Rosa-Mariechen, selbst im besten Teenageralter und ziemlich frech, das Küken berüsseln wollte, sprang Hanni ihr mit dem Schnabel direkt ins Gesicht. Seither fängt das Mariechen immer an zu schreien, wenn sie Mutter und Kind sieht, und macht einen großen Bogen um sie.“ (10)
Wer einmal ein Huhn in Freiheit beobachtet hat, weiß, was in ihm alles steckt. Die meisten Hühner aber erreichen ihre natürliche Lebenserwartung nicht. Unzählige dieser Lebewesen verbringen ihr Leben als Produktionsmaschinen in Gefangenschaft: In einer überwachten Umgebung ohne Sonne, Wind, Regen, Insekten oder Pflanzen und Sprossen. In ihrer Nahrung befinden sich chemische Zusätze, die den Appetit anregen. Und sie leiden an Osteoporose, chronischer Eileiterentzündung, Kloakenverletztung und Darmvorfällen. Alles für ein Hühnerei, das dem Huhn gestohlen wird, um den menschlichen Proteinbedarf zu decken. Als ob es nicht auch mit einer rein planzlichen Ernährung ginge.
Quellen:
(1) http://www.animalequality.de/huehner-werden-unterschaetzt
(2) Jeffrey M. Masson, Wovon Schafe träumen. Das Seelenleben der Tiere, Wilhelm Heyne Verlag, München 2006
(3) Hilal Sezgin, Hilal Sezgins Tierleben. Von Schweinen und anderen Zeitgenossen, C. H. Beck, München 2014
(4) Jeffrey M. Masson, Wovon Schafe träumen. Das Seelenleben der Tiere
(5) http://www.animalequality.de/huehner-werden-unterschaetzt
(6) Anny Duperey, Vom Glück ein Huhn zu sein, Frederking & Thaler Verlag, München 2013
(7) http://www.spektrum.de/news/schlaue-huehner/1342910
(8) Jeffrey M. Masson, Wovon Schafe träumen. Das Seelenleben der Tiere
(9) ebd.
(10) Hilal Sezgin, Hilal Sezgins Tierleben. Von Schweinen und anderen Zeitgenossen
Fotos:
1-© bildkistl – Fotolia.com
2-© pishkott – Fotolia.com
3-© marina kuchenbecker – Fotolia.com